Eine kleine Gruppe der Mosaikkirche war im Sept. 2019 eine Woche auf Lesbos, um geflüchteten Menschen zu helfen und das Camp dort zu unterstützen.
Hier beschreiben sie ihre Erlebnisse.
Ein Tag im Camp Moria
Die Aufgaben im Lager sind vielfältig. Alles läuft nach dem Prinzip „Learning by doing“. Ein kleiner Einblick, worin unsere Tätigkeiten im Lager gestern bestanden:
Rebecca muss mit anderen Helfern ein improvisiertes Haus aus Europaletten, Holzstücken und Planen abreisen. Sie passte darauf auf, dass die Paletten und Holzstücke nicht mitgenommen werden und anderswo benutzt werden. Ein Mann, der seit über einem Jahr im Lager ist, hatte sich das Haus gebaut. Da der Platz für Zelte gebraucht wird und der Mann mit einigen Jungendlichen dort wohnte, muss sein Haus abgerissen werden. Teilweise werden die mit Nägel durchbohrten Bretter den Helfern aus der Hand gerissen. Aber wie soll man böse sein, wenn man weiß, dass die Menschen das Material eigentlich dringend brauchen, um sich ein Zuhause zu errichten…
Naomi, Malte, Franzi, Miri und Rahel sind bei den New-Arrivals (Neuankömmlingen) damit beschäftigt, an zwei verschiedenen Orten Essen auszugeben. Hunderte Menschen stehen in einer Schlange vor den “Durchreichern” in den Kontainern, halten ihre Papiere mit einer Nummer vor, um ihre Ration zu erhalten. Die Nummern werden notiert, tausende Flaschen, Brote und Tomaten gehen in Windeseile durch die Hände der Helfer. Die am frühen Morgen gelieferten Lebensmittel sind abgezählt und es muss gut gehaushaltet werden. Außerdem muss beim „Gate-Guarding“ darauf geachtet werden, dass Unbefugte nicht in die jeweiligen „Sections“ gelangen. Dort warten über 200 alleinreisende Minderjährige seit Monaten auf die Weiterreise aufs Festland. Außerdem leben dort junge Single-Frauen sowie Frauen mit Kindern ohne einen Mann. Alles Menschen, in deren Lebensgeschichte wir nur einen kleinen Einblick bekommen. Eine weitere Aufgabe besteht darin, Tickets oder Formulare auszuhändigen. Die Hausnummern (mit Spraydosen werden Nummern auf die Zeltaußenseite gesprüht) müssen gefunden werden, damit die richtige Person ihre Dokumente erhält.
Charlotte steht derweil am Info-Point, einer Theke, die auf dem Schottergelände vor dem Container von Euro-Relief errichtet wurde. Viele fragende Leute stehen an der Theke. Charlotte schaut nach Flüchtlingen, welche übersetzen können, und versucht auf die Fragen der Menschen einzugehen und ihnen zu helfen. Manche brauchen ein Zelt, andere eine Auskunft, andere wiederrum fragen, ob sie freiwillig übersetzen können.
Steffi, Anas und Helena laufen mit einer Karte durchs Lager. „Mapping“ steht auf dem Programm. Sie müssen schauen, ob die Leute noch dort wohnen, wo ein Platz für sie vorgesehen war. Bei 95% stimmen die Angaben noch. Bei dem Rest muss überprüft werden, was mit den Leuten passiert ist. Anas und Helena werden in ein Zelt eingeladen. Eine Mutter bittet sie auf einen Tee herein und zeigt sich sehr gastfreundlich. Lebensgeschichten werden erzählt, Leid geteilt, Tränen fließen und Lächeln werden sich geschenkt.
Joel nutzt seine Expertise, um vier Stunden lang interessierten Menschen von Jesus zu erzählen. Er sagt einen Satz, er wird übersetzt. Das geschieht wieder und wieder. Eine anstrengende Aufgabe, aber auch eine sehr schöne.
Wolle, Anas und Leon geben sich mit den Leuten der Spätschicht die Klinke in die Hand. Für sie steht heute die Nachtschicht an. Es ist eine ruhige Nacht. Immer wieder geht einer die Runde über das Gelände, prüft, ob alles ruhig ist, die Container noch ordnungsgemäß verschlossen sind. Dabei geht es vorbei an vielen Schlafenden, die mit Decken und Schlafsäcken bedeckt sind und auf Matten oder Pappen liegen. Vorbei an Familien, die mit ihren drei Kindern auf dem Boden schlafen. Dann wird sich abwechselnd auf eine Isomatte auf den Boden gelegt, um ein bisschen Schlaf zu bekommen. In den frühen Morgenstunden wird gemeinsam mit ein paar hilfsbereiten Geflüchteten die Wasser- und Essenslieferung im Container der „New-Arrivals“ verstaut. Die dazugehörigen Pappkartons sind blitzschnell verschwunden. Jemand hat sich sein Bett abgeholt…
Der Schwimmwesten-Friedhof
Gestern besichtigten wir den Ort, an dem Schwimmwesten und Boote abgeladen wurden, mit denen Flüchtlinge auf die Insel Lesbos gelangten.
Mit unseren zwei Leihwagen fahren wir in Richtung Mytilene, im Norden von Lesbos, der drittgrößten Insel Griechenlands. Teilweise ist die türkische Küste so nah, dass man die Silhouette der westlichen Küstenregion sieht. Unser Bullie kämpft sich die steilen Serpentinen der Küstenstraße herauf, von der aus man das azurblau glitzernde Meer und die von Ölivenbäumen bewachsenen Hügel sieht. Auf einmal verwandelt sich die Küstenstraße in eine schroffe Schotterpiste. Nach einiger Zeit stoppen Wolle und Steffi auf einer Anhöhe die Fahrzeuge.
Wir sind da.
Zu unserer Rechten liegen einige kleinere Boote. Deplatziert liegen sie mit ihrem Rumpf auf dem ausgedörrten Boden. Das Interieur wurde herausgerissen, um mehr Platz für die Flüchtenden zu schaffen. Teilweise sind die Boote ausgebrannt und die verkohlten Kunstharzfasern, aus denen einige Schiffe gebaut wurden, flattern verspielt im Wind. Auch die hölzernen Boote sehen marode aus, denn die Planken sind morsch und der Lack ist teilweise abgeplatzt. Wir stellen uns vor, wie große Gruppen von Menschen auf einem solchen Kahn eng aneinandergequetscht in pechschwarzen Nächten über das Meer flüchten. Flüchten vor Gewalt, Zwangsrekrutierung, mangelnder Grundversorgung, Diskriminierung, Verfolgung oder sozialer Verelendung und Perspektivlosigkeit, die das Leben in ihrer Heimat erschwerten oder gar unmöglich gemacht haben. (Luft, Stefan (2016): Flucht nach Europa. Ursachen, Konflikte, Folgen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. S. 18)
Links von uns, in einer Senke zwischen den Hügeln, liegt der „Schwimmwesten-Friedhof“. In der idyllischen Landschaft wirken die leuchtend roten und orangenen Schwimmwesten fremd. Während wir auf die Halde schreiten, merke ich, wie es um mich herum stiller wird. Dieser Ort, diese Ruhestätte lässt jeden von uns still werden und stimmt uns nachdenklich. Noch eben auf der Fahrt in angeregte Gespräche vertieft oder ein Bild von malerischen Landschaft aufnehmend, schauen wir jetzt gedankenversunken auf die unzähligen Rettungswesten. Ich klettere vorsichtig auf einen der meterhohen Hügel aus Schwimmwesten, zerfetzten Schlauchbooten und Treibstoffkanistern. Ich entdecke einen schlumpfblauen Schwimmreifen deren Mickymouse-Aufdruck mich unschuldig anlächelt. Wie sarkastisch, denke ich. Es ist bedrückend sich vorzustellen, dass kleine Kinder in einem Schwimmreifen in eine ungewisse Zukunft flüchten, anstatt darin lachend im Wasser zu plantschen und eine unbeschwerte Kindheit zu genießen. Die Abertausend Westen lassen uns nochmal mehr erfahren, wie viele Menschen auf der Flucht waren, sind und sein werden. In vielen Artikeln schreiben die Autoren, dass viele der Westen gefälscht sind. Damit sind viele Westen absolut unbrauchbar und saugen sich voll Wasser. Ein beklemmendes Gefühl steigt in mir auf.
Recherchiert man, finden sich Anzahlen von 80.000 bis 100.000 Schwimmwesten, die auf dem Friedhof liegen sollen. Mit dieser Menge könnte vom Uniprofessor, über die Kassiererin hin zum Kindergartenkind jede Person in Gießen mit einer Schwimmweste ausgestattet werden.
Mit vielen Eindrücken und Fragen steigen wir zurück in die Autos. Aus der Frustration und der Ohnmacht gegenüber diesen Umständen, die man hier in Lesbos unmittelbar erfährt, wächst eine Motivation etwas zu tun und für die Dinge gemeinsam zu beten, auf die wir keinen Einfluss haben. Morgen werden wir in verschiedenen Schichten rund um die Uhr im Camp anpacken, um eine kleine Hilfe im Camp Moria zu sein.
Der erste Eindruck zählt
Nachdem wir einen gesamten Tag unterwegs waren, um auf der Insel Lesbos anzukommen, ging es dafür gestern bereits richtig los. Morgens um 7:30 Uhr machten wir uns mit den Autos auf den Weg, um von Ruben über die Arbeit im Camp gebrieft zu werden. Der bärtige, schlanke Holländer lächelt in die Runde, nachdem er die Frage an uns gestellt hat, warum wir hier sind. Die meisten von uns wollen einfach nur einen kleinen Unterschied machen, eine helfende Hand sein. Er macht uns Mut, dass auch eine kurze Zeit etwas bewirken kann. Vielen ist auch wichtig, aus erster Hand zu erfahren und weiterzugeben, wie die Lager aussehen, von denen man schon viel gesehen und gehört hat. Medial und in den Köpfen der Menschen verblasst das Thema Flüchtlinge, die bunten Bilder von den asylsuchenden Menschen. Im Camp Moria, das für 3000 Menschen ausgelegt ist und mittlerweile von ca. 12.000 Menschen bewohnt wird, sind die grauen und schwarzen Farbtöne auf einmal wieder stechend scharf. Ruben, von Euro Relief, erzählt uns von der Geschichte der Griechen mit den Flüchtlingen, von der Genfer Konvention und dem Türkei-Deal. Wir sitzen dabei in einem Raum auf gemütlichen Sofas, trinken Kaffee, um die Müdigkeit von der langen Anreise und der ersten Nacht in neuen Betten zu vertreiben. Ruben berichtet uns vom Lager, erklärt uns die Karte des Camps und sagt uns, welche Aufgaben wir übernehmen könnten.
Gegen 11 Uhr betreten wir das Camp Moria, welches inmitten der hügeligen Olivenhaine liegt. Das ganze Lager ist umzäunt. Wir laufen zunächst an ein paar Polizisten vorbei, hin zu den verschiedenen Sektionen, in die man nur mit Genehmigung kommt. Hier wird alleinstehenden Frauen und Minderjährigen Schutz geboten, da es im Lager auch immer wieder zu Vergewaltigungen kommt. Beim Betreten des Lagers prasseln die ersten Eindrücke auf uns ein. Mittlerweile ist es recht warm, der konstante Wind wirbelt den Menschen in Moria den Staub ins Gesicht. Wir gehen an einer Gruppe junger Afghanen vorbei, die gerade Karten spielen. Daneben liegt ein Mann auf einem Stück Pappe mit einer dünnen Decke bedeckt und schläft. Am Zaun lehnen verschiedene Menschen, hier und da eine improvisierte Wäscheleine, da eine weitere schlafende Person, die noch keinen Platz zugeteilt bekommen hat. Uns wird das große Lager gezeigt mit seinen eng aneinandergeketteten Containern und Zelten. Ruben erklärt uns stetig das Camp und gibt uns Informationen, während er durchs Camp führt, damit wir uns in den nächsten Tagen hier gut zurechtfinden können. An einer Stelle lässt er uns einen kurzen Moment in einen Gang gehen. Es erinnert an die brasilianischen Favelas, wobei die Einrichtung in Moria noch wesentlich rudimentärer ist. Wir werfen kurze Blicke in die Zelte. Ein dreijähriges Mädchen, das auf dem harten Zeltboden liegt und schläft. Ein Drei-Mann-Zelt mit einer 5-köpfigen Familie, die darin wohnt. Eine Mutter, die ihr Kind im Arm hält. Ein Schreikind, das die erschöpften Neuankömmlinge in seinen eigenen vier (Container-) Wänden nicht schlafen lässt. Eine von uns bemerkt schockiert: „Schon krass, dass wir dann bei unserer Arbeit einfach bei denen zu Hause reingehen müssen.“ Nach diesem kurzen Einblick in die Wohnsituation geht es direkt weiter. Vorbei an Menschen, die entweder geschäftig durch das Camp laufen, vor sich hin vegetieren, oder an Kindern, die spielend die steile Straße der umfunktionierten Militärbasis herunterrennen. In der Hand kein kindgemäßes Spielzeug, sondern das, was sich halt so im Camp findet. Ich höre hinter mir jemanden sagen: „Ich habe noch nie so viele Kinder einfach nur mit Steinen spielen sehen.“ Wir kommen mit unserem holländischen Anleiter zu einem Bereich, wo die Menschen einfach in den Feldern, außerhalb von Moria, Zelte aufschlagen, die sie von den Hilforganisationen zugeteilt bekommen. Wir laufen an einem Friseursalon vorbei, der aus einem Tisch mit ein paar Kämmen, einer Schere und einem Plastikstuhl besteht. Von dem Stuhl aus betrachtet sich gerade ein frischgeschorener Junge in dem kitschigen Plastikspiegel, der provisorisch im Zaun aufgehängt ist. Not macht erfinderisch. Man fühlt sich wie an einem Bahnhof ohne Fahrplan. Viele wartende Menschen aus den verschiedensten Orten, überall ein Gemisch aus Warten und Hektik. Immer wieder finden freundliche Interaktionen zwischen Mitgliedern der Gruppe und vor allem Kindern statt, die uns freundlich grüßen, Willkommen heißen oder uns anlächeln. Mehr als ein High five, ein Lächeln oder einen kurzen Wortwechsel können wir den Leuten noch nicht geben. Aber jeder von uns will was tun, muss was tun, das spiegelt uns das Camp wider. Nach der Einweisung und ein paar ersten learning-by-doing-Aufgaben im Camp ist der erste Tag dann auch vorbei.
Wir können erstmal gehen, sie aber müssen bleiben. Doch die ersten Eindrücke gehen mit uns als Teil von ihnen und wiederum jetzt auch als ein Teil von uns.
Wer den Kauf von dringend gebrauchten Decken, Zelten und anderen Hilfsgütern finanziell unterstützen möchte, kann das über folgende Bankverbindung mit dem Betreff “Lesbos-Hilfe” tun.
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